Alltag im 20. Jahrhundert. Zeitzeugen aus Thüringen erzählen.
Kurzinhalt:
In der Nacht vom 21. zum 22. Oktober 1946 läuteten sowjetische Militärs zu sehr früher Morgenstunde an den Wohnungstüren von 275 Zeissianern und teilten den aus ihrer Nachtruhe Aufgeschreckten mit, dass die Sowjetische Militäradministration in Deutschland beschlossen hat, die ausgewählten Spezialisten teils mit, teils ohne Familie für einen längeren Zeitraum in die Sowjetunion zu verbringen. Weder Einsatzort noch Aufenthaltsdauer wurden ihnen mitgeteilt. Die Spezialisten des Jenaer Zeiss-Werkes sollten der optischen Industrie bei der Produktion ziviler und militärischer optischer Erzeugnisse in der Sowjetunion einen Produktivitätsschub verleihen. Während in Jena die Demontage der Zeiss- und Schott-Werke begann, fuhren die zwangsverpflichteten Zeiss-Experten in streng bewachten Zügen in die Sowjetunion. Der größte Teil von ihnen kehrte 1952 nach Jena zurück...siehe Datei "Ausführliche Angaben zum Inhalt (pdf)"
Produzent Verein für Kunst, Kultur und Kommunikation (KuKuK, e.V.) Jena, vertreten durch Torsten Cott und Dietmar Ebert in Kooperation mit dem Offenen Hörfunkkanal Jena e.V.
Herausgeber Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien Heinrich- Heine-Allee 2-4 99438 Bad Berka www.thillm.de www.schulportal-thueringen.de
Inhalt In der Nacht vom 21. zum 22. Oktober 1946 läuteten sowjetische Militärs zu sehr früher Morgenstunde an den Wohnungstüren von 275 Zeissianern und teilten den aus ihrer Nachtruhe Aufgeschreckten mit, dass die Sowjetische Militäradministration in Deutschland beschlossen hat, die ausgewählten Spezialisten teils mit, teils ohne Familie für einen längeren Zeitraum in die Sowjetunion zu verbringen. Weder Einsatzort noch Aufenthaltsdauer wurden ihnen mitgeteilt. Gleich den über 3000 deutschen Fachleuten, die aus den Bereichen Raketenbau, Flugzeugbau, Chemie und Schiffbau innerhalb der Operation „Osoaviakhim“ zwangsverpflichtet wurden, behandelten die Sowjetische Militäradministration und das Ministerium für Bewaffnung der UdSSR auch die Optik-Spezialisten als „lebende Reparation“. Sie sollten der optischen Industrie bei der Produktion ziviler und militärischer optischer Erzeugnisse in der Sowjetunion einen Produktivitätsschub verleihen. 41 Zeissianer mit und 35 Zeissianer ohne Familie wurden in Leningrad eingesetzt. Ein Teil der Zeissianer und deren Familien wurden in einem ehemaligen Sanatorium untergebracht, das dem Obersten Sowjet gehörte und im Norden der Stadt gelegen war. Sie nannten dieses Gebäude das „Schlösschen“. Der andere Teil der Gruppe wurde in der Siedlung Schtschemilowka im Wolodarsky Rayon untergebracht. 1948 wurden beide Gruppen in Schtschemilowka zusammengeführt. Die Spezialisten wurden zumeist in den Betrieben der Leningrader Opto-Mechanischen-Vereinigung (LOMO) eingesetzt. Die interviewten Zeissianer, deren Frauen und Kinder haben erzählt, dass sie das Theater und Konzerte besuchen und selbst kleine Veranstaltungen organisieren durften, so zum 200. Geburtstag Johann Wolfgang Goethes oder zum 200. Todestag Johann Sebastian Bachs. Untersagt wurde ihnen allerdings eine geplante Feier zum 100. Gründungsjubiläum der Firma Carl Zeiss Jena. Der größte Teil der aus Jena stammenden Zeissianer und deren Familien wohnten in Krasnogorsk in einer Siedlung, die von deutschen Kriegsgefangenen erbaut worden war. Ein anderer Teil der Zeissianer wohnte zunächst in Planornaja, einem früheren Jagdschloss und späteren Ferienheim, und zog 1947 nach Krasnogorsk. Die Zeiss-Spezialisten arbeiteten im Werk 393 in Krasnogorsk. Unter ihnen befanden sich Facharbeiter aus Spezialwerkstätten, verschiedenen Bereichen der Optikfertigung sowie Techniker, Ingenieure und Konstrukteure aus allen Konstruktionsbereichen außer dem Konstruktionsbüro für astronomische Geräte sowie Wissenschaftler „aus dem Zellen-, Kristall- und Elektrolabor, dem Reproduktionsbüro und dem Zentralen Prüflabor“ (Mühlfriedel, Wolfgang und Hellmuth, Edith:Carl Zeiss in Jena 1945-1990, Köln & Weimar & Wien 2004, S.44.). Verstanden sich die Leningrader Zeissianer als Spezialisten im Ausland, so gab es in der Krasnogorsker Gruppe Unterschiede zwischen den Werksangehörigen, die sich politisch zurückhielten und den Mitgliedern der Antifa-Gruppe, die den politischen Kurs in der damaligen Sowjetunion und der neu gegründeten DDR stark unterstützten. Für 13 Zeissianer erfolgte der Einsatz im Werk Nr. 569 in Sagorsk. Sie wurden mit Konstruktion und Produktion ophtamologischer und medizinischer Geräte sowie mit der Herstellung von Feldstechern beauftragt, ein Teil von ihnen wohnte zunächst in einem ehemaligen Ferienheim, schließlich wurden alle in einer Siedlung in Sagorsk untergebracht. Sieben Zeiss-Spezialisten kamen zunächst nach Kolomna, drei von ihnen wurden 1978 nach Podolsk umgesiedelt. Eine weitere Gruppe von Zeiss-Spezialisten wohnte zunächst in Mamontowka, einem Vorort von Moskau, und übersiedelte 1948 in das „Dom Oljen“ nach Moskau-Sokolniki. Sie waren im Werk 569 in Moskau tätig und kamen „zum überwiegenden Teil aus dem Konstruktionsbüro >Elektrik<, in dem während des Zweiten Weltkriegs auch Zieleinrichtungen konstruiert worden waren. Zu dieser Gruppe gehörten die beiden Wissenschaftler Dr. Wilhelm Kämmerer und Dr. Herbert Kortum“ (Ebenda, S.44f.).
Serienbeschreibung In der Serie "Zeitzeugen" kommen Personen zu Wort, die aus ihrem persönlichen Erleben berichten. Die originalen Schilderungen der Zeitzeugen werden dabei ggf. durch Begleitmaterial ergänzt.
Das Tonmaterial, aus dem die Beispiele entnommen sind, wurde in den Jahren 1993 bis 2001 aufgenommen. Innerhalb des Projektes „Erzählte Geschichte“, das im Verein für Kunst, Kultur und Kommunikation (KuKuK e.V.) angesiedelt war, wurden innerhalb von acht Jahren biographische Interviews mit Pensionären der Zeiss- und Schott-Werke, mit Absolventen der ehemaligen Universitätsschule sowie mit Senioren in Weimar und Erfurt geführt. Der von ihnen erinnerte geschichtliche Zeitraum reicht vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur friedlichen Revolution 1989.
Anmerkungen
Handhabung In der Langfassung der Tonbeispiele erfolgte die Anordnung der Zeitzeugenerzählungen in folgender Reihenfolge: Horst A.; Gisela A.; Lisbeth und Klaus B.; Dr. W.F.; I. F. und Dr. W.F.; I. F.; Karl S. I; Karl S. II; Gerhard L.; Dr. Helga K.; Dr. W.F. II.
Für Hilfe und Unterstützung bei der Erarbeitung des Themenkomplexes „Der Alltag der zur Arbeit in die Sowjetunion zwangsverpflichteten Zeissianer und deren Familien in den Jahren 1946 bis 1952/53“ danken wir allen Kindern der Zeiss-Experten für die freundliche Genehmigung, die uns von ihren Eltern erzählten Erinnerungen an dieser Stelle veröffentlichen zu dürfen. Darüber hinaus danken wir allen Interviewpartnern, deren Erinnerungen hier nicht vorgestellt werden können, die es uns jedoch ermöglicht haben, ein differenziertes Bild über das Alltagsleben der Zeissianer und ihrer Familien, die in den Nachkriegsjahren in der Sowjetunion waren, zu gewinnen. Ein herzliches Dankeschön geht an Constanze Mann, die Leiterin des Stadtarchivs Jena und Herrn Dr. Wolfgang Wimmer, den Leiter des Unternehmensarchivs im Jenaer Zeiss-Werk für ihre Hilfe.